Heute weiß Walter Dell* nicht mal mehr, was ihn so geärgert hatte. Vermutlich Nichtigkeiten. Doch nach jenem Tag riss ihn die Panik aus dem Schlaf. Er hatte Schmerzen in der Brust. Wie schon öfter tagsüber, wenn er Groll hegte. In dieser Nacht schmerzte die Brust besonders stark. Sein erster Gedanke: Das Herz versagt – wieder. Einen Herzinfarkt hatte Dell bereits hinter sich. Nun überkam ihn erneut Todesangst. Seine Frau rief den Notarzt. Der vermeldete jedoch: falscher Alarm. Der 56-Jährige durchlebte noch zwei weitere solcher Schreckensnächte, noch zweimal brodelt der Ärger in seinem Herzen weiter, verwandelt sich in Schmerz.

Dass Herz und Seele eine Einheit bilden, gehört zum Allgemeinwissen. Wie stark sie tatsächlich aufeinander wirken – dass Gefühle körperliche Schmerzen und sogar Herzinfarktsymptome auslösen können – das wissen nur wenige. Selbst Mediziner hielten dies lange Zeit für unmöglich. Seit René Descartes im 17. Jahrhundert die Trennung von Körper und Geist postulierte, haben Ärzte und Wissenschaftler sie lange als zwei getrennte Sphären betrachtet – und behandelt. Doch in den vergangenen Jahren zeigten Studien immer deutlicher, wie eng Körper und Psyche miteinander verbunden sind.

Ob Herzinfarkt, Rückenschmerz oder Virusinfektion – die Psyche hat einen immens großen Einfluss auf Erkrankungsrisiken und Heilungsverläufe. Ärzte müssen das berücksichtigen, wenn sie ihre Patienten gut behandeln und dem Gesundheitssystem Milliarden ersparen wollen. Noch ist das anders: Obwohl die Psychosomatik in immer mehr medizinische Disziplinen Einzug hält, irren noch immer viele Patienten durch das System, weil Ärzte nur nach körperlichen Ursachen ihrer Leiden suchen und die Seele nicht einbeziehen.

Umgekehrt, und das ist auch für viele Experten eine Überraschung, hat der Körper erstaunliche Macht über die Psyche. Die Forscher beginnen gerade erst, das ganze Ausmaß zu begreifen. Biochemische Vorgänge in den Organen können Menschen emotional so aus dem Gleichgewicht bringen, dass sie psychisch krank werden. Manch ein psychisches Leiden entsteht womöglich gar in den Tiefen des Darms, vermuten Vertreter einer neuen Forschungsrichtung, der Neurogastroenterologie. Auch die experimentelle Psychologie hat den Körper entdeckt und zeigt mit verblüffenden Studien, wie selbst unbewusste Bewegungen unsere Gefühle und Gedanken steuern. Womöglich ist der Körper sogar ein Schlüssel zu neuartigen Psychotherapien.

Schon Sigmund Freud ging davon aus, dass psychische Konflikte sich in körperliche Beschwerden umwandeln. Bis jedoch auch Mediziner das akzeptierten, vergingen Jahrzehnte. Heute weiß man, dass psychische Erkrankungen, ein hoher Druck am Arbeitsplatz oder Konflikte in der Partnerschaft sich von der Kopfhaut bis in den kleinen Zeh bemerkbar machen können.

Bereits im Mutterleib formt das seelische Wohl der Schwangeren das Immunsystem ihres Kindes. Durchlebt sie eine Trennung oder andere Stresssituationen, schüttet der Körper Cortisol aus, das über die Plazenta auch in den Körper des Fötus gelangt und dort das Immunsystem verändert. Die betroffenen Kinder leiden dann als Erwachsene eher unter Allergien oder Asthma.

Später kommt der eigene stressige Alltag hinzu, der das Immunsystem schwächt und den Körper anfälliger macht für Viren und Bakterien. So sind etwa psychisch stark beanspruchte Pfleger von Alzheimerpatienten nicht nur deutlich häufiger krank als Menschen in anderen Berufszweigen, wie eine Studie in den USA ergab. In ihrem Körper vermehren sich schützende Immunzellen auch weniger stark als üblich. Die Pfleger in der Studie bildeten nach einer Grippeimpfung zudem oftmals weniger Antikörper als nötig, um geschützt zu sein. Manchmal lässt sich die Wirkung der Psyche sogar direkt beobachten, etwa an Wunden: In belastenden Zeiten heilen sie langsamer. Verschwindet der Schorf sonst nach einer Woche, dauert es unter Prüfungsstress fast drei Tage länger. Bei ständig streitenden Ehepartnern kommen etwa vier Tage hinzu.